Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation leiden 350 Millionen Menschen unter Hörstörungen. Hierbei wird zwischen Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit unterschieden. Eine Schallleitungsschwerhörigkeit wird durch eine Störung im äußeren Ohr und/oder im Mittelohr verursacht. Eine Störung im Innenohr (Hörschnecke) und/oder des Hörnerven führt zu einer Schallempfindungsschwerhörigkeit. Die Kombination aus beiden Störungen des Hörens nennt man kombinierte Schwerhörigkeit.
Eine Erkrankung der Schallleitung kann in der Regel durch eine hörverbessernde Operation (Tympanoplastik) behoben werden. Eine Schallempfindungsschwerhörigkeit wird durch eine apparative Hörhilfe (Hörgerät) therapiert. In bestimmten Fällen kommen Knochenleitungshörgeräte und teil-implantierbare Hörgeräte, sowie sogenannte Cochlea Implantate zur Anwendung. Während konventionelle Hörgeräte und implantierbare Hörgeräte das Ohr, wie gewohnt, akustisch stimulieren, regt ein Cochlea Implantat den Hörnerven direkt durch elektrische Impulse an.
Selbst bei völliger Taubheit kann damit ein Sprachverstehen mit hohem Erfolg ermöglicht werden.
Das interdisziplinäre Team der AG experimentelle Audiologie befasst sich mit der Diagnostik und Behandlung von Schwerhörigkeit. Im wissenschaftlichen Fokus der Gruppe stehen Verbesserungen der OP-Techniken durch eine Individualisierung der Cochlea-Implantation, Verbesserungen der Hördiagnostik sowie Bildgebung und Cochlea-Morphologie. Unter anderem wurden hierbei in der Vergangenheit Methoden erarbeitet welche die Strahlenbelastung im Rahmen der Versorgung mit Cochlea Implantaten deutlich reduzieren konnten. Für detailliertere Informationen besuchen Sie gerne die Hompage unserer Forschungsgruppe.
Aktuelle Forschungsbereiche
1. Die numerische Modellierung der Wanderwellenausbreitung in der Cochlea (Hörschnecke) zur Berechnung des cochleären Verstärkers, der im gesunden Fall ein empfindliches Hören bis zu kleinsten Schalldrücken von 20 µPa (Pascal, physikalische Einheit des Schalldrucks) und geringeren ermöglicht. Hierbei konnte bereits berechnet werden, dass diese enorm hohe Empfindlichkeit biologisch durch einen parametrischen Verstärker, realisiert durch die äußeren Haarzellen des Corti-Organs, gebildet wird (Böhnke, 2019).
2. Untersuchungen des Schwingungsverhaltens des gesunden und pathologischen Mittel- und Innenohres bei akustischer Anregung und dessen diagnostische Nutzung mittels berührungsloser Messung am Trommelfell (Tympanometrie) und den frühen akustisch evozierten Potentialen (BERA, Brainstem Evoked Response Audiometry) durch Anlegen von Elektroden an die Kopfhaut.
3. Entwicklung eines neuen Messsystems für die otologische Diagnostik
Die Kenntnis der Trommelfellauslenkung bei externer Beschallung ist für eine präzise Diagnostik des Hörsystems (insbesondere des Mittel- und Innenohres) entscheidend. Dies wurde schon in der Dissertation von Thomas Janssen (1989), einem früheren Mitglied der Arbeitsgruppe (1980 – 2015) für objektive Audiometrie an der HNO-Klinik in Verbindung mit frühen akustisch evozierten Potentialen gezeigt. Daher werden mit einer neuen Messtechnik, in Zusammenarbeit mit der medizintechnischen Industrie, die Schalldrücke im Gehörgang gemessen und damit eine Kontrolle der Trommelfellauslenkung erreicht. Dies wiederum gestattet die Ermittlung der Trommelfellimpedanz (oder Immittanz) und damit verbesserte diagnostische Möglichkeiten wie in einer aktuellen Arbeit aus Kiel und Hamburg gezeigt (Mewes und Wiesner 2020).
Die Ergebnisse des ersten Forschungsbereichs kommen in erster Linie den Patienten mit einem Resthörvermögen bei tiefen Frequenzen (f < 300 Hz) zugute, da die Kenntnis der Schallverarbeitung in der implantierten Cochlea bei diesen Frequenzen eine akustische Versorgung ermöglicht (Elektro-Akustische Stimulation, EAS), die das Sprachverständnis in Störgeräuschen verbessert.
Das obere Bild zeigt die 3D Rekonstruktion einer humanen Hörschnecke mit eingeführter Cochlea Implantat Elektrode, entnommen aus der Dissertation von Katharina Braun (2015) am TUM Universitätsklinikum, Klinikum rechts der Isar der TU München (Braun und Mitarbeiter, 2015). Mehr erfahren
Ein weiteres Projekt betrifft die objektive Mittelohrdiagnostik, die bisher weitgehend entweder nur visuell oder mit der Tympanometrie durchgeführt wird. Die berührungslose Analyse der Trommelfellschwingungen mit einem Laser-Doppler-Vibrometer bietet eine sehr viel feinere Unterscheidung der veränderten Schwingungsmuster bei unterschiedlichen Erkrankungen. Das folgende Bild zeigt das zugrunde gelegte mechanisch-mathematische Modell mit Mittelohr-Hörimplantat der Firma MED-EL (Vibrant-Soundbridge), mit dem Floating Mass Transducer (FMT) angebracht an der Gehörknöchelchenkette.
unteres Bild:
Entnommen der Arbeit von Böhnke et al., 2013. Weitere Untersuchungen hierzu, die im TUM Universitätsklinikum, Klinikum rechts der Isar durchgeführt wurden finden sich in Strenger et al., 2018.
Der Erfolg der Versorgung mit einem implantierbaren Mittelohrhörgerät hängt in hohem Maße von der Ankopplungsqualität des elektromechanischen Wandlers ab, der während der Implantation an der Gehörknöchelchenkette zur Vibrationsübertragung befestigt wird. Bisher gibt es zur Überprüfung dieser Ankopplung kein quantitatives Messverfahren. Im Rahmen einer Dissertation Von Frau Dr. Katja Böck, der Leiterin der Audiologie des Klinikums rechts der Isar, wurden zusätzlich Messungen an implantierten Patienten zur postoperativen Verlaufskontrolle insbesondere der Ankopplung vorgenommen (Messungen von Trommelfellbewegungen zur Ankopplungsprüfung von Hörimplantaten, 2020).
Die Messungen setzen ein kommerziell erhältliches Laser-Doppler-Vibrometer Messsystem mit hohen Anschaffungskosten (etwa 50.000 €) voraus. Daher arbeiten wir an der Entwicklung eines Gerätes, das durch eine neue akustische Messtechnik ebenfalls Auslenkungen von Milliardstel Meter (10-9 m) erfassen kann und sehr viel preisgünstiger ist.
Literatur
- Böhnke F (2015), Nonlinear Distortions and Parametric Amplification Generate Otoacoustic Emissions and Increased Hearing Sensitivity, Acoustics, MDPI
- Janssen T, Untersuchung des Einflusses der Reizpolarität und Reizdauer auf die Auslösung früher akustisch evozierter Potentiale der Hörbahn durch Messung und Modellrechnung, Dissertation 1989 an der TU Berlin, Germany.
- Mewes A, Wiesner T (2020), Breitbandige Immittanz-Messungen Teil I: Messtechnische Grundlagen und Messergebnisse bei Erwachsenen, Zeitschrift für Audiologie, Jahrgang 59, Nr. 2
- Böhnke F, Bretan T, Lehner S, Strenger T (2013) Simulations and Measurements of Human Middle Ear
Vibrations Using Multi-Body Systems and Laser-Doppler Vibrometry with the Floating Mass Transducer
Materials 2013, 6, 4675-4688; doi:10.3390/ma6104675 - Strenger T, Brandstetter M, Stark T, Böhnke F (2018), Neue klinische Anwendungen der Laser-Doppler-Vibrometrie in der Otologie, Ausgabe 4, HNO
- Braun K, Böhnke F, Stark T (2012) Three-dimensional representation of the human cochlea using micro-computed tomography data: Presenting an anatomical model for further numerical calculations, Acta-Otolaryngologica, vol. 132, no. 6, 603-613
- Böck K (2020) Optische Messungen von Trommelfellbewegungen für die Entwicklung objektiver Anpassverfahren von Mittelohr-Hörimplantaten, Dissertation an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
- Schepers K, Steinhoff H-J, Ebenhoch H, Böck K, Bauer K, Rupprecht L, Möltner A, Stefano M, Hagen R (2019) Remote programming of cochlear implants in users of all ages (Pubmed)
Lehrveranstaltung, TU München, Fachgebiet Maschinenwesen (seit 2002)
Vorlesung: Biomechanik des Ohres
Ergänzungsfach (2 SWS, 3 ECTS) für den Master-, Bachelorstudiengang Medizintechnik, das Fachmodul Medizintechnik, Ingenieurwissenschaftliche & physikalische Fächer und Mediziner der TU München